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Kerstin Gier

Rubinrot. Liebe geht durch

Alle Zeiten

Roman

Fü r Elch, Delphin und Eule,

die mich beim Schreiben so treu begleitet haben,

und fü r einen kleinen roten Doppeldeckerbus, der mich genau im richtigen Augenblick glü cklich gemacht hat

 

 

Rubinrot.

Liebe geht durch alle Zeiten

Prolog

Hyde Park, London 8. April 1912

Wä hrend sie sich auf die Knie fallen ließ und anfing zu weinen, schaute er sich nach allen Seiten um. Wie er vermutet hatte, war der Park um diese Uhrzeit menschenleer. Joggen war noch lange nicht in Mode und fü r Penner, die auf der Parkbank schliefen, nur zugedeckt mit einer Zeitung, war es zu kalt.

Er schlug den Chronografen vorsichtig in das Tuch ein und verstaute ihn in seinem Rucksack.

Sie kauerte neben einem der Bä ume am Nordufer des Serpentine Lake in einem Teppich verblü hter Krokusse.

 

Ihre Schultern zuckten und ihr Schluchzen hö rte sich an wie die verzweifelten Laute eines verwundeten Tiers. Er konnte es kaum ertragen. Aber er wusste aus Erfahrung, dass es besser war, sie in Ruhe zu lassen, also setzte er sich neben sie ins taufeuchte Gras, starrte auf die spiegelglatte Wasserflä che und wartete.

Wartete darauf, dass der Schmerz abebbte, der sie wahrscheinlich nie ganz verlassen wü rde.

Ihm war ganz ä hnlich zumute wie ihr, aber er versuchte sich zusammenzureiß en. Sie sollte sich nicht auch noch Sorgen um ihn machen

mü ssen.

»Sind die Papiertaschentü cher eigentlich schon erfunden? «, schniefte sie schließ lich und wandte ihm ihr trä nennasses Gesicht zu.

»Keine Ahnung«, sagte er.»Aber ich hä tte ein stilechtes Stofftaschentuch mit Monogramm anzubieten.«

»G.M. Hast du das etwa von Grace geklaut? «

 

»Sie hat es mir freiwillig gegeben. Du darfst es ruhig vollschniefen, Prinzessin.«

Sie verzog den Mund zu einem schiefen Lä cheln, als sie ihm das Taschentuch zurü ckgab.»Jetzt ist es ruiniert. Tut mir leid.«

»Ach was! In diesen Zeiten hä ngt man es zum Trocknen in die Sonne und benutzt es noch einmal«, sagte er.»Hauptsache, du hast aufgehö rt zu weinen.«

Sofort traten ihr wieder die Trä nen in die Augen.»Wir hä tten sie nicht im Stich lassen dü rfen. Sie braucht uns doch! Wir wissen gar nicht, ob unser Bluff funktioniert, und wir haben keine Chance, es je zu erfahren.«

Ihre Worte gaben ihm einen Stich.»Tot hä tten wir ihr noch weniger genutzt.«

»Wenn wir uns nur mit ihr hä tten verstecken kö nnen, irgendwo im Ausland, unter falschem Namen, nur bis sie alt genug wä re...«

 

Er unterbrach sie, indem er heftig den Kopf schü ttelte.»Sie hä tten uns ü berall gefunden, das haben wir doch schon tausendmal durchgesprochen. Wir haben sie nicht im Stich gelassen, wir haben das einzig Richtige getan: Wir haben ihr ein Leben in Sicherheit ermö glicht. Zumindest die nä chsten sechzehn Jahre.«

Sie schwieg einen Moment. Irgendwo in der

Ferne wieherte ein Pferd und vom West Carriage Drive hö rte man Stimmen, obwohl es noch beinahe Nacht war.

»Ich weiß, dass du recht hast«, sagte sie schließ lich.»Es tut nur so weh zu wissen, dass wir sie nie wiedersehen werden.«Sie fuhr sich mit der Hand ü ber die verweinten Augen.

»Wenigstens werden wir uns nicht langweilen.

Frü her oder spä ter werden sie uns auch in dieser Zeit aufstö bern und uns die Wä chter auf den Hals hetzen. Er wird weder den Chronografen noch seine Plä ne kampflos aufgeben.«

Er grinste, weil er die Abenteuerlust in ihren Augen aufblitzen sah, und wusste, dass die Krise vorerst ü berstanden war.»Vielleicht waren wir ja doch schlauer als er oder das andere Ding funktioniert am Ende gar nicht.

Dann sitzt er fest.«

»Ja, schö n wä r's. Aber wenn doch, sind wir die Einzigen, die seine Plä ne durchkreuzen kö nnen.«

»Schon deshalb haben wir das Richtige getan.«Er stand auf und klopfte sich den Dreck von seiner Jeans.»Komm jetzt! Das verdammte Gras ist nass und du sollst dich noch schonen.«

Sie ließ sich von ihm hochziehen und kü ssen.

»Was machen wir jetzt? Ein Versteck fü r den Chronografen suchen? «

Unschlü ssig sah sie zur Brü cke hinü ber, die den Hyde Park von den Kensington Gardens

 

trennte.

»Ja. Aber erst mal plü ndern wir die Depots der Wä chter und decken uns mit Geld ein. Und dann kö nnten wir den Zug nach Southampton

nehmen. Dort geht am Mittwoch die Titanic auf ihre Jungfernfahrt.«

Sie lachte.»Das ist also deine Vorstellung von schonen! Aber ich bin dabei.«

Er war so glü cklich darü ber, dass sie wieder lachen konnte, dass er sie gleich noch einmal kü sste.»Ich dachte eigentlich... Du weiß t doch, dass Kapitä ne auf hoher See die Berechtigung haben, Ehen zu schließ en, nicht wahr, Prinzessin? «

»Du willst mich heiraten? Auf der Titanic?

Bist du irre? «»Das wä re doch sehr romantisch.«

»Bis auf die Sache mit dem Eisberg.«Sie legte ihren Kopf an seine Brust und vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke.»Ich liebe dich so sehr«, murmelte sie.

»Willst du meine Frau werden? «

»Ja«, sagte sie, das Gesicht immer noch an seiner Brust vergraben.»Aber nur, wenn wir spä testens in Queenstown wieder aussteigen.«

»Bereit fü r das nä chste Abenteuer, Prinzessin? «»Bereit, wenn du es bist«, sagte sie leise.

Eine unkontrollierte Reise durch die Zeit kü ndigt sich in der Regel einige Minuten, manchmal auch Stunden oder sogar Tage vorher durch Schwindelgefü hle in Kopf, Magen und/oder in den Beinen an. Viele Gen-Trä ger berichten auch von migrä neä hnlichen Kopfschmerzen. Der erste Zeitsprung - auch Initiationssprung genannt -findet zwischen dem 16. und 17. Lebensjahr des Gen-Trä gers statt.

 

Aus den Chroniken der Wä chter, Band 2, Allgemeingü ltige Gesetzmä ß igkeiten

1.

Montagmittag in der Schul-Cafeteria spü rte ich es zum ersten Mal. Fü r einen Moment hatte ich ein Gefü hl im Bauch wie auf der Achterbahn, wenn man von der hö chsten Stelle bergab rast. Es dauerte nur zwei Sekunden, aber es reichte, um mir einen Teller Kartoffelpü ree mit Soß e ü ber die Schuluniform zu kippen. Das Besteck schepperte zu Boden, den Teller konnte ich gerade noch festhalten.

»Das Zeug schmeckt ohnehin wie schon mal vom Boden aufgewischt«, sagte meine Freundin Leslie, wä hrend ich die Schweinerei notdü rftig beseitigte. Natü rlich schauten alle zu mir herü ber.»Wenn du willst, kannst du dir meine Portion gerne auch noch auf die Bluse schmieren.«

»Nein, danke.«Die Bluse der Schuluniform von Saint Lennox hatte zwar zufä lligerweise die Farbe von Kartoffelpü ree, trotzdem fiel der Fleck unangenehm ins Auge. Ich knö pfte die dunkelblaue Jacke darü ber zu.

»Na, muss die kleine Gwenny wieder mal mit ihrem Essen spielen? «, sagte Cynthia Dale.

»Setz dich bloß nicht neben mich, Schlabbertante.«

»Als ob ich mich freiwillig neben dich setzen wü rde, Cyn.«Leider passierte mir ö fter ein kleines Missgeschick mit dem Schulessen. Erst letzte Woche war mir eine grü ne Gö tterspeise aus ihrer Alu-Form gehü pft und zwei Meter weiter in den Spaghetti Carbonara eines Fü nftklä sslers gelandet. Die Woche davor war mir Kirschsaft umgekippt und alle am Tisch hatten ausgesehen, als hä tten sie die Masern.

 

Und wie oft ich die blö de Krawatte, die zur Schuluniform gehö rte, schon in Soß e, Saft oder Milch getunkt hatte, konnte ich gar nicht mehr zä hlen.

Nur schwindelig war mir dabei noch nie gewesen.

Aber wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. In letzter Zeit war bei uns zu Hause einfach zu viel von Schwindelgefü hlen die Rede gewesen.

Allerdings nicht von meinen, sondern denen meiner Cousine Charlotte, die, wunderschö n und makellos wie immer, neben Cynthia saß und ihren Kartoffelbrei lö ffelte.

Die ganze Familie wartete darauf, dass Charlotte schwindelig wurde. An manchen Tagen erkundigte sich Lady Arista - meine Groß mutter - alle zehn Minuten, ob sie etwas spü re. Die Pause dazwischen nutzte meine Tante Glenda, Charlottes Mutter, um haargenau das Gleiche zu fragen.

Und jedes Mal, wenn Charlotte verneinte, kniff Lady Arista die Lippen zusammen und Tante Glenda seufzte. Manchmal auch umgekehrt.

Wir anderen - meine Mum, meine Schwester Caroline, mein Bruder Nick und Groß tante Maddy - verdrehten die Augen. Natü rlich war es aufregend, jemanden mit einem Zeitreise-Gen in der Familie zu haben, aber mit den Jahren nutzte sich das doch merklich ab.

Manchmal hatten wir das Theater, das um Charlotte veranstaltet wurde, einfach ü ber.

Charlotte selber pflegte ihre Gefü hle hinter einem geheimnisvollen Mona-Lisa-Lä cheln zu verbergen. An ihrer Stelle hä tte ich auch nicht gewusst, ob ich mich ü ber fehlende Schwindelgefü hle freuen oder ä rgern sollte.

Na ja, um ehrlich zu sein, ich hä tte mich vermutlich gefreut. Ich war eher der ä ngstliche Typ. Ich hatte gern meine Ruhe.

 

»Frü her oder spä ter ist es so weit«, sagte Lady Arista jeden Tag.»Und dann mü ssen wir bereit sein.«

Tatsä chlich war es nach dem Mittagessen so weit, im Geschichtsunterricht bei Mr Whitman. Ich war hungrig aus der Cafeteria aufgestanden. Zu allem Ü berfluss hatte ich nä mlich ein schwarzes Haar im Nachtisch -

Stachelbeerkompott mit Vanillepudding -

gefunden und war mir nicht sicher gewesen, ob es sich um mein eigenes oder das einer Kü chenhilfe gehandelt hatte. So oder so war mir der Appetit vergangen.

Mr Whitman gab uns den Geschichtstest zurü ck, den wir letzte Woche geschrieben hatten.»Offenbar habt ihr euch gut vorbereitet. Besonders Charlotte. Ein A plus fü r dich.«

Charlotte strich sich eine ihrer glä nzenden roten Haarsträ hnen aus dem Gesicht und sagte»Oh«, als ob das Ergebnis eine Ü berraschung fü r sie sei. Dabei hatte sie immer und ü berall die besten Noten.

Aber Leslie und ich konnten diesmal auch zufrieden sein. Wir hatten beide ein A minus, obwohl unsere»gute Vorbereitung«darin bestanden hatte, uns die Elizabeth-Filme mit Cate Blanchett auf DVD anzuschauen und dazu Chips und Eis zu futtern. Allerdings hatten wir im Unterricht immer gut aufgepasst, was in anderen Fä chern leider weniger der Fall war.

Mr Whitmans Unterricht war einfach so interessant, dass man gar nicht anders konnte, als zuzuhö ren. Mr Whitman selber war auch sehr interessant. Die meisten Mä dchen waren heimlich oder auch unheimlich in ihn verliebt.

Und Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin, ebenfalls. Sie wurde jedes Mal knallrot, wenn Mr Whitman an ihr vorbeiging. Er sah aber auch verboten gut aus, da waren sich alle einig. Das heiß t alle, auß er Leslie. Sie fand, Mr Whitman sä he aus wie ein Eichhö rnchen aus einem Trickfilm.

»Immer wenn er mich mit seinen groß en braunen Augen anguckt, will ich ihm Nü sse geben«, sagte sie. Sie ging sogar so weit, die aufdringlichen Eichhö rnchen im Park nicht mehr Eichhö rnchen zu nennen, sondern nur noch»Mr Whitmans«. Dummerweise war das irgendwie ansteckend und mittlerweile sagte ich auch immer:»Ach guck doch mal da, ein dickes, kleines Mr Whitman, wie sü ß! «, wenn ein Eichhö rnchen nä her hü pfte.

Wegen dieser Eichhö rnchensache waren Leslie und ich sicher die einzigen Mä dchen in der Klasse, die nicht fü r Mr Whitman schwä rmten. Ich versuchte es immer wieder mal (schon weil die Jungen in unserer Klasse irgendwie alle total kindisch waren), aber es half nichts, der Vergleich zu einem Eichhö rnchen hatte sich unwiderruflich in meinem Gehirn eingenistet. Und niemand hegt romantische Gefü hle fü r ein Eichhö rnchen!

Cynthia hatte das Gerü cht in die Welt gesetzt, Mr Whitman habe neben dem Studium als Model gearbeitet. Als Beweis hatte sie eine Reklame-Seite aus einem Hochglanzmagazin ausgeschnitten, in dem ein Mann, der Mr Whitman nicht unä hnlich sah, sich mit einem Duschgel einseifte.

Auß er Cynthia glaubte allerdings niemand, dass Mr Whitman der Duschgel-Mann sei. Der hatte nä mlich ein Grü bchen im Kinn und Mr Whitman nicht.

Die Jungen aus unserer Klasse fanden Mr Whitman nicht so toll. Vor allem Gordon Gelderman konnte ihn nicht ausstehen. Bevor Mr Whitman an unsere Schule gekommen war, waren die Mä dchen aus unserer Klasse nä mlich alle in Gordon verliebt gewesen. Ich auch, wie ich leider zugeben muss, aber da war ich elf Jahre alt gewesen und Gordon irgendwie noch ganz niedlich. Jetzt, mit sechzehn, war er nur noch doof. Und seit zwei Jahren in einer Art Dauer-Stimmbruch. Leider hielt ihn das abwechselnde Gekiekse und Gebrumme nicht davon ab, stä ndig blö des Zeug zu reden.

Er regte sich schrecklich ü ber sein F im Geschichtstest auf.»Das ist diskriminierend, Mr Whitman. Ich habe mindestens ein B

verdient. Nur weil ich ein Junge bin, kö nnen Sie mir keine schlechten Noten geben.«

Mr Whitman nahm Gordon den Test wieder aus der Hand und blä tterte eine Seite um.

»Elisabeth 1, war so krass hä sslich, dass sie keinen Mann abbekam. Sie wurde deshalb von allen die hä ssliche Jungfrau genannt«, las er vor.

Die Klasse kicherte.

»Ja und? Stimmt doch«, verteidigte sich Gordon.»Ey, die Glubschaugen, der verkniffene Mund und voll die bescheuerte Frisur.«

Wir hatten die Gemä lde mit den Tudors darauf in der National Portrait Gallery grü ndlich studieren mü ssen und tatsä chlich hatte die Elisabeth I. auf den Bildern wenig Ä hnlichkeit mit Cate Blanchett. Aber erstens fand man damals vielleicht schmale Lippen und groß e Nasen total schick und zweitens waren die Klamotten wirklich super. Und drittens hatte Elisabeth I. zwar keinen Ehemann, aber jede Menge Affä ren - unter anderem eine mit Sir...

wie hieß er noch gleich? Im Film wurde er von Clive Owen gespielt.

»Sie nannte sich selber die jungfrä uliche Kö nigin«, sagte Mr Whitman zu Gordon.

»Weil...«Er unterbrach sich.»Ist dir nicht gut, Charlotte? Hast du Kopfschmerzen? «

Alle sahen zu Charlotte hinü ber. Charlotte hielt sich den Kopf.»Mir ist nur...

schwindelig«, sagte sie und sah mich an.

»Alles dreht sich.«

 

Ich holte tief Luft. Es war also so weit. Unsere Groß mutter wü rde entzü ckt sein. Und Tante Glenda erst.

»Oh, cool«, flü sterte Leslie neben mir.»Wird sie jetzt durchsichtig? «Obwohl Lady Arista uns von klein auf eingetrichtert hatte, dass wir unter gar keinen Umstä nden mit irgendjemandem ü ber die Vorkommnisse in unserer Familie reden dü rften, hatte ich fü r mich selber beschlossen, dieses Verbot bei Leslie zu ignorieren. Schließ lich war sie meine allerbeste Freundin und allerbeste Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander.

Charlotte machte zum ersten Mal, seit ich sie kannte (was genau genommen mein ganzes Leben war), einen beinahe hilflosen Eindruck.

Aber dafü r wusste ich, was zu tun war. Tante Glenda hatte es mir oft genug eingeschä rft.

»Ich bringe Charlotte nach Hause«, sagte ich zu Mr Whitman und stand auf.»Wenn das okay ist.«

Mr Whitmans Blick ruhte immer noch auf Charlotte.»Das halte ich fü r eine gute Idee, Gwendolyn«, sagte er.»Gute Besserung, Charlotte.«

»Danke«, sagte Charlotte. Auf dem Weg zur Tü r taumelte sie leicht.»Kommst du, Gwenny? «

Ich beeilte mich, ihren Arm zu nehmen. Zum ersten Mal kam ich mir in Charlottes Gegenwart ein bisschen wichtig vor. Es war ein gutes Gefü hl, zur Abwechslung mal gebraucht zu werden.

»Ruf mich unbedingt an und erzä hl mir alles«, flü sterte Leslie mir noch zu.

Vor der Tü r war Charlottes Hilflosigkeit schon wieder verflogen. Sie wollte tatsä chlich noch ihre Sachen aus dem Spind holen.

Ich hielt sie am Ä rmel fest.»Lass das doch, Charlotte! Wir mü ssen so schnell wie mö glich nach Hause. Lady Arista hat gesagt...«

»Es ist schon wieder vorbei«, sagte Charlotte.

»Na und? Es kann trotzdem jeden Augenblick passieren.«Charlotte ließ sich von mir in die andere Richtung ziehen.»Wo habe ich nur die Kreide? «Ich kramte im Gehen in der Jackentasche.»Ach, hier ist sie ja. Und das Handy. Soll ich schon mal zu Hause anrufen?

Hast du Angst? Oh, dumme Frage, tut mir leid. Ich bin aufgeregt.«

»Schon okay. Ich habe keine Angst.«

Ich sah sie von der Seite an, um zu ü berprü fen, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hatte ihr kleines, ü berlegenes Mona-Lisa-Lä cheln aufgesetzt, unmö glich zu erkennen, welche Gefü hle sie dahinter verbarg.

»Soll ich zu Hause anrufen? «

»Was soll denn das bringen? «, fragte Charlotte zurü ck.»Ich dachte nur...«

»Du kannst das Denken getrost mir ü berlassen«, sagte Charlotte.

Wir liefen nebeneinander die Steintreppen hinunter, auf die Nische zu, in der James immer saß. Er erhob sich sofort, als er uns sah, aber ich lä chelte ihm nur zu. Das Problem mit James war, dass niemand auß er mir ihn sehen und hö ren konnte.

James war ein Geist. Deshalb vermied ich es, mit ihm zu sprechen, wenn andere dabei waren. Nur bei Leslie machte ich eine Ausnahme. Sie hatte nie auch nur eine Sekunde an James' Existenz gezweifelt. Leslie glaubte mir alles und das war einer der Grü nde, warum sie meine beste Freundin war.

Sie bedauerte zutiefst, dass sie James nicht sehen und hö ren konnte.

Ich war darü ber eigentlich ganz froh, denn das Erste, was James sagte, als er Leslie sah, war:»Himmelherrgott! Das arme Kind hat ja mehr Sommersprossen, als Sterne am Himmel sind! Wenn sie nicht schleunigst anfä ngt, eine gute Bleichlotion aufzutragen, wird sich niemals ein Mann fü r sie finden! «

»Frag ihn, ob er vielleicht irgendwo einen Schatz vergraben hat«, war hingegen das Erste, was Leslie sagte, als ich die beiden einander vorstellte.

Leider hatte James nirgendwo einen Schatz vergraben. Er war ziemlich beleidigt, dass Leslie ihm das zutraute. Er war auch immer beleidigt, wenn ich so tat, als sä he ich ihn nicht. Er war ü berhaupt recht schnell beleidigt.

»Ist er durchsichtig? «, hatte Leslie sich bei diesem ersten Zusammentreffen erkundigt.

»Oder so schwarz-weiß? «

Nein, James sah eigentlich ganz normal aus.

Bis auf die Klamotten natü rlich.

 

»Kannst du durch ihn hindurchgehen? «

»Ich weiß nicht, ich hab's noch nie versucht.«

»Dann versuch es jetzt mal«, hatte Leslie vorgeschlagen.

Aber James wollte nicht zulassen, dass ich durch ihn hindurchging.

»Was soll das heiß en - Geist? Ein James August Peregrin Pimplebottom, Erbe des vierzehnten Earls von Hardsdale, lä sst sich nicht beleidigen, auch nicht von kleinen Mä dchen.«

Wie so viele Geister wollte er einfach nicht wahrhaben, dass er kein Mensch mehr war. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Wir kannten uns mittlerweile seit fü nf Jahren, seit meinem ersten Schultag auf der Saint Lennox High School, aber fü r James schien es nur ein paar Tage her zu sein, dass er im Club mit seinen Freunden eine Runde Karten gespielt und ü ber Pferde, Schö nheitspflä sterchen und Perü cken gefachsimpelt hatte. (Er trug beides, Schö nheitspflä sterchen und Perü cke, was aber besser aussah, als es sich jetzt anhö ren mag.) Dass ich seit Beginn unserer Bekanntschaft um zwanzig Zentimeter gewachsen, eine Zahnspange und einen Busen bekommen hatte sowie die Zahnspange wieder losgeworden war, ignorierte er geflissentlich. Ebenso wie die Tatsache, dass aus dem Stadtpalais seines Vaters lä ngst eine Privatschule geworden war, mit fließ endem Wasser, elektrischem Licht und Zentralheizung. Das Einzige, das er von Zeit zu Zeit zu registrieren schien, war die Lä nge der Rö cke unserer Schuluniform. Offenbar war der Anblick weiblicher Waden und Knö chel zu seiner Zeit hö chst selten gewesen.

»Es ist nicht besonders hö flich von einer Dame, einen hö hergestellten Herrn nicht zu grü ß en, Miss Gwendolyn«, rief er jetzt, wieder mal total eingeschnappt, weil ich ihm keine Beachtung schenkte.

 

»Entschuldige. Wir haben es eilig«, sagte ich.

»Wenn ich irgendwie behilflich sein kann, stehe ich selbstverstä ndlich zur Verfü gung.«

James zupfte sich die Spitzenbesä tze an seinen Ä rmeln zurecht.

»Nein, vielen Dank. Wir mü ssen nur schnell nach Hause.«Als ob James irgendwie behilflich hä tte sein kö nnen! Er konnte nicht mal eine Tü r ö ffnen.»Charlotte fü hlt sich nicht gut.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte James, der eine Schwä che fü r Charlotte hatte. Im Gegensatz zu»der Sommersprossigen ohne Manieren«, wie er Leslie zu nennen pflegte, fand er meine Cousine ausschließ lich»liebreizend und von bezaubernder Anmut«. Auch heute gab er wieder schleimige Komplimente von sich.

»Bitte entrichte ihr meine besten Wü nsche.

Und sag ihr, sie sieht heute wieder einmal entzü ckend aus. Ein bisschen blass, aber zauberhaft wie eine Elfe.«»Ich werde es ihr ausrichten.«

»Hö r auf, mit deinem imaginä ren Freund zu sprechen«, sagte Charlotte.»Sonst landest du irgendwann noch in der Irrenanstalt.«

Okay, ich wü rde es ihr nicht ausrichten. Sie war ohnehin schon eingebildet genug.

»James ist nicht imaginä r, er ist unsichtbar.

Das ist ja wohl ein groß er Unterschied! «

»Wenn du meinst«, sagte Charlotte. Sie und Tante Glenda waren der Ansicht, dass ich James und die anderen Geister nur erfand, um mich wichtig zu machen. Ich bereute es, ihnen jemals davon erzä hlt zu haben. Als kleines Kind war es mir allerdings unmö glich gewesen, ü ber lebendig gewordene Wasserspeier zu schweigen, die vor meinen Augen an den Fassaden herumturnten und mir Grimassen schnitten. Die Wasserspeier waren ja noch lustig, aber es gab auch gruselig aussehende dunkle Geistgestalten, vor denen ich mich gefü rchtet hatte. Bis ich begriff, dass Geister einem gar nichts anhaben kö nnen, hatte es ein paar Jahre gedauert. Das Einzige, was Geister wirklich tun kö nnen, ist, einem Angst einzujagen.

James natü rlich nicht. Der war vö llig harmlos.

»Leslie meint, es ist vielleicht ganz gut, dass James jung gestorben ist. Er hä tte mit dem Namen Pimplebottom sowieso keine Frau abgekriegt«, sagte ich, nicht ohne mich zu vergewissern, dass James uns nicht mehr hö ren konnte.»Ich meine, wer will schon freiwillig Pickelpo heiß en? «Charlotte verdrehte die Augen.

»Er sieht allerdings nicht schlecht aus«, fuhr ich fort.»Und stinkreich ist er auch, wenn man ihm glauben darf. Nur seine Angewohnheit, sich stä ndig ein parfü miertes Spitzentaschentuch an die Nase zu halten, ist ein wenig unmä nnlich.«

 

»Wie schade, dass niemand auß er dir ihn bewundern kann«, sagte Charlotte.

Das fand ich allerdings auch.

»Und wie dumm, dass du auß erhalb der Familie ü ber deine Absonderlichkeiten sprichst«, setzte Charlotte hinzu.

Das war wieder einmal so ein typischer Charlotte-Seitenhieb. Es sollte mich krä nken und das tat es leider auch.

»Ich bin nicht absonderlich! «

»Natü rlich bist du das! «

»Das musst du gerade sagen, Gen-Trä gerin! «

»Ich quatsche das schließ lich nicht ü berall herum«, sagte Charlotte.»Du hingegen bist wie Groß tante Mad-Maddy. Die erzä hlt sogar dem Milchmann von ihren Visionen.«

»Du bist gemein.«

»Und du bist naiv.«

 

Streitend liefen wir durch die Vorhalle, vorbei am glä sernen Kabuff unseres Hausmeisters, hinaus auf den Schulhof. Es war windig und der Himmel sah aus, als ob es jeden Augenblick zu regnen anfinge. Ich bereute, dass wir nicht doch unsere Sachen aus den Spinden geholt hatten. Ein Mantel wä re jetzt gut gewesen.

»Tut mir leid, der Vergleich mit Groß tante Maddy«, sagte Charlotte etwas zerknirscht.

»Ich bin wohl doch etwas aufgeregt.«

Ich war ü berrascht. Sie entschuldigte sich sonst nie.

»Kann ich verstehen«, sagte ich schnell. Sie sollte merken, dass ich ihre Entschuldigung zu wü rdigen wusste. In Wahrheit konnte von Verstä ndnis natü rlich keine Rede sein. Ich an ihrer Stelle hä tte vor Angst geschlottert.

Aufgeregt wä re ich zwar auch gewesen, aber ungefä hr so aufgeregt wie bei einem Zahnarztbesuch.»Auß erdem mag ich Groß tante Maddy.«Das stimmte wirklich.

Groß tante Maddy war vielleicht ein bisschen redselig und neigte dazu, alles viermal zu sagen, aber das war mir tausendmal lieber als das geheimnisvolle Getue der anderen.

Auß erdem verteilte Groß tante Maddy immer groß zü gig Zitronenbonbons an uns.

Aber klar, Charlotte machte sich natü rlich nichts aus Bonbons. Wir ü berquerten die Straß e und hasteten auf dem Bü rgersteig weiter.

»Starr mich nicht so von der Seite an«, sagte Charlotte.»Du wirst schon merken, wenn ich verschwinde. Dann machst du dein blö des Kreidekreuz und rennst weiter nach Hause.

Aber es wird gar nicht passieren, nicht heute.«

»Das kannst du doch gar nicht wissen. Bist du gespannt, wo du landen wirst? Ich meine, wann? «

»Natü rlich«, sagte Charlotte.

 

»Hoffentlich nicht mitten im groß en Brand 1664.«

»Der groß e Brand von London war 1666«, sagte Charlotte.»Das kann man sich doch wirklich leicht merken. Auß erdem war dieser Teil der Stadt damals noch gar nicht groß artig bebaut, ergo hat hier auch nichts gebrannt.«

Sagte ich schon, dass Charlottes weitere Vornamen

»Spielverderberin«

und

»Klugscheiß erin«waren?

Doch ich ließ nicht locker. Es war vielleicht gemein, aber ich wollte das blö de Lä cheln wenigstens fü r ein paar Sekunden von ihrem Gesicht radiert sehen.»Wahrscheinlich brennen diese Schuluniformen wie Zunder«, bemerkte ich angelegentlich.

»Ich wü sste, was ich zu tun hä tte«, sagte Charlotte knapp und ohne das Lä cheln einzustellen.

Ich konnte nicht anders, als sie fü r ihre Coolness zu bewundern. Fü r mich war die Vorstellung, plö tzlich in der Vergangenheit zu landen, einfach nur Angst einflö ß end.

Egal zu welcher Zeit, frü her war es doch immer fü rchterlich gewesen. Stä ndig gab es Krieg, Pocken und Pest, und sagte man ein falsches Wort, wurde man als Hexe verbrannt.

Auß erdem gab es nur Plumpsklos und alle Leute hatten Flö he und morgens kippten sie den Inhalt ihrer Nachttö pfe aus dem Fenster, ganz gleich, ob da unten gerade jemand langging.

Charlotte war ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, sich in der Vergangenheit zurechtzufinden. Sie hatte nie Zeit zum Spielen gehabt, fü r Freundinnen, Shopping, Kino oder Jungs. Stattdessen hatte sie Unterricht erhalten im Tanzen, Fechten und Reiten, in Sprachen und Geschichte. Seit letztem Jahr fuhr sie ü berdies jeden Mittwochnachmittag mit Lady Arista und Tante Glenda fort und kam erst spä tabends zurü ck. Sie nannten es

»Mysterienunterricht«. Ü ber die Art der Mysterien wollte uns allerdings niemand Auskunft geben, am wenigsten Charlotte selber.

»Das ist ein Geheimnis«, war wahrscheinlich der erste Satz gewesen, den sie fließ end hatte sprechen kö nnen. Und gleich danach:»Das geht euch gar nichts an.«

Leslie sagte immer, unsere Familie habe vermutlich mehr Geheimnisse als Secret Service und MI 6 zusammen. Gut mö glich, dass sie recht hatte.

Normalerweise nahmen wir den Bus von der Schule nach Hause, die Linie 8 hielt am Berkeley Square und von dort war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Heute liefen wir die vier Stationen zu Fuß, wie Tante Glenda es angeordnet hatte. Ich hielt den ganzen Weg lang die Kreide gezü ckt, aber Charlotte blieb an meiner Seite.

 

Als wir die Stufen zur Haustü r erklommen, war ich beinahe enttä uscht. Hier endete nä mlich mein Part an der Geschichte schon wieder. Ab jetzt wü rde meine Groß mutter die Sache ü bernehmen.

Ich zupfte Charlotte am Ä rmel.»Sieh mal! Der schwarze Mann ist wieder da.«

»Na und? «Charlotte sah sich nicht mal um.

Der Mann stand gegenü ber im Hauseingang von Nummer 18. Er trug wie immer einen schwarzen Trenchcoat und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut. Ich hatte ihn fü r einen Geist gehalten, bis ich bemerkt hatte, dass meine Geschwister und Leslie ihn auch sehen konnten.

Er beobachtete seit Monaten beinahe rund um die Uhr unser Haus. Mö glicherweise waren es auch mehrere Mä nner, die sich abwechselten und genau gleich aussahen. Wir stritten uns darü ber, ob es sich um spionierende Einbrecher, Privatdetektive oder einen bö sen Zauberer handelte. Letzteres war die feste Ü berzeugung meiner Schwester Caroline. Sie war neun und liebte Geschichten mit bö sen Zauberern und guten Feen. Mein Bruder Nick war zwö lf und fand Geschichten mit Zauberern und Feen blö d, deshalb tippte er auf die spionierenden Einbrecher. Leslie und ich waren fü r die Privatdetektive.

Wenn wir aber auf die andere Straß enseite gingen, um uns den Mann nä her anzuschauen, verschwand er entweder im Haus oder er stieg in einen schwarzen Bentley, der am Bordstein parkte, und fuhr davon.

»Das ist ein Zauberauto«, behauptete Caroline.»Wenn niemand hinschaut, verwandelt es sich in einen Raben. Und der Zauberer wird zu einem winzig kleinen Mä nnlein und reitet auf seinem Rü cken durch die Luft.«

Nick hatte sich das Nummernschild des Bentleys notiert, fü r alle Fä lle.»Obwohl sie das Auto nach dem Einbruch sicher umlackieren und ein neues Nummernschild montieren werden«, sagte er.

Die Erwachsenen taten so, als ob sie nichts Verdä chtiges daran finden konnten, Tag und Nacht von einem schwarz gekleideten Mann mit Hut beobachtet zu werden.

Charlotte ebenfalls.»Was ihr nur immer mit dem armen Mann habt! Er raucht dort eine Zigarette, das ist alles.«

»Na klar! «Da glaubte ich ja noch eher die Version mit dem verzauberten Raben.

Es hatte angefangen zu regnen, keine Minute zu frü h.

»Ist dir wenigstens wieder schwindelig? «, fragte ich, wä hrend wir darauf warteten, dass uns die Tü r geö ffnet wurde. Einen Hausschlü ssel besaß en wir nicht.

»Nerv nicht so rum«, sagte Charlotte.»Es passiert, wenn es passieren soll.«

Mr Bernhard ö ffnete uns die Tü r. Leslie meinte, Mr Bernhard sei unser Butler und der endgü ltige Beweis dafü r, dass wir beinahe so reich waren wie die Queen oder Madonna. Ich wusste nicht genau, wer oder was Mr Bernhard wirklich war. Fü r meine Mum war er»Groß mutters Faktotum«und unsere Groß mutter selber nannte ihn»einen alten Freund der Familie«. Fü r meine Geschwister und mich war er einfach»Lady Aristas unheimlicher Diener«.

Bei unserem Anblick zog er die Augenbrauen in die Hö he.»Hallo, Mr Bernhard«, sagte ich.

»Scheuß liches Wetter, nicht wahr? «

»Absolut scheuß lich.«Mit seiner Hakennase und den braunen Augen hinter seiner runden goldfarbenen Brille erinnerte mich Mr Bernhard immer an eine Eule, genauer gesagt an einen Uhu.»Man sollte unbedingt einen Mantel anziehen, wenn man das Haus verlä sst.«

»Ä hm, ja, das sollte man wohl«, sagte ich.

»Wo ist Lady Arista? «, fragte Charlotte. Sie war nie besonders hö flich zu Mr Bernhard.

Vielleicht, weil sie im Gegensatz zu uns anderen schon als Kind keinen Respekt vor ihm gehabt hatte. Dabei hatte er die wirklich Respekt einflö ß ende Fä higkeit, ü berall im Haus scheinbar aus dem Nichts hinter einem aufzutauchen und sich dabei so leise zu bewegen wie eine Katze. Nichts schien ihm zu entgehen und egal um welche Uhrzeit: Mr Bernhard war immer prä sent.

Mr Bernhard war schon im Haus gewesen, bevor ich geboren wurde, und meine Mum sagte, ihn hä tte es auch schon gegeben, als sie noch ein kleines Mä dchen gewesen war.

Deshalb war Mr Bernhard vermutlich fast genauso alt wie Lady Arista, auch wenn er nicht so aussah. Er bewohnte ein Appartement im zweiten Stock, das ü ber einen separaten Korridor und eine Treppe vom ersten Stock aus zu erreichen war. Es war uns verboten, den Korridor auch nur zu betreten.

Mein Bruder behauptete, dass Mr Bernhard dort Falltü ren und Ä hnliches eingebaut hatte, um unliebsame Besucher abzuhalten. Aber beweisen konnte er es nicht. Niemand von uns hatte sich jemals in diesen Korridor gewagt.

»Mr Bernhard braucht seine Privatsphä re«, sagte Lady Arista oft.

»Jaja«, sagte dann meine Mum.»Die brauchten wir hier wohl alle.«Aber sie sagte es so leise, dass Lady Arista es nicht hö rte.

»Ihre Groß mutter ist im Musikzimmer«, informierte Mr Bernhard Charlotte.

»Danke.«Charlotte ließ uns im Eingang stehen und lief die Treppe hinauf. Das Musikzimmer lag im ersten Stock, und warum es so hieß, wusste kein Mensch. Es stand nicht mal ein Klavier darin.

 

Das Zimmer war der Lieblingsraum von Lady Arista und Groß tante Maddy. Die Luft darin roch nach Veilchenparfü m und dem Qualm von Lady Aristas Zigarillos. Gelü ftet wurde viel zu selten. Es wurde einem ganz schummrig, wenn man sich lä nger dort aufhielt.

Mr Bernhard schloss die Haustü r. Ich warf noch einen schnellen Blick an ihm vorbei auf die andere Straß enseite. Der Mann mit dem Hut war immer noch da. Tä uschte ich mich oder hob er gerade die Hand, beinahe so, als ob er jemandem zuwinkte? Mr Bernhard vielleicht oder am Ende sogar mir?

Die Tü r fiel zu und ich konnte den Gedanken nicht zu Ende verfolgen, weil urplö tzlich das Achterbahngefü hl von vorhin in meinen Magen zurü ckkehrte. Alles vor meinen Augen verschwamm. Meine Knie gaben nach und ich musste mich an der Wand abstü tzen, um nicht zu fallen.

 

Im nä chsten Moment war es auch schon wieder vorbei.

Mein Herz klopfte wie verrü ckt. Irgendwas stimmte nicht mit mir. Ohne Achterbahn wurde einem nicht zweimal innerhalb von zwei Stunden schwindelig.

Es sei denn... ach Unsinn! Wahrscheinlich wuchs ich zu schnell. Oder ich hatte... ä hm...

einen Gehirntumor? Oder vielleicht einfach nur Hunger.

Ja, das musste es sein. Ich hatte seit dem Frü hstü ck nichts mehr gegessen. Das Mittagessen war ja auf meiner Bluse gelandet.

Erleichtert atmete ich auf.

Jetzt erst bemerkte ich, dass Mr Bernhards Eulenaugen mich aufmerksam musterten.

»Hoppla«, sagte er, reichlich spä t.

Ich spü rte, wie ich rot wurde.»Ich geh dann mal... Hausaufgaben machen«, murmelte ich.

 

Mr Bernhard nickte mit gleichgü ltiger Miene.

Aber wä hrend ich die Treppe hinaufging, spü rte ich seine Blicke in meinem Rü cken.

Aus den Annalen der Wä chter 10. Oktober 1994

Zurü ck aus Durham, wo ich Lord Montroses jü ngste Tochter Grace Shepherd besucht habe, die ü berraschenderweise vorgestern schon von ihrer Tochter entbunden wurde. Wir freuen uns alte ü ber die Geburt von

Gwendolyn Sophie Elizabeth Shepherd 2460

g, 52 cm.

Mutter und Kind sind wohlauf. Unserem Groß meister zum fü nften Enkelkind unsere herzlichsten Glü ckwü nsche.

 

Bericht: Thomas George, Innerer Kreis

2.

Leslie nannte unser Haus»einen vornehmen Palast«wegen der vielen Zimmer, Gemä lde, Holzvertä felungen und Antiquitä ten. Sie vermutete hinter jeder Wand einen Geheimgang und in jedem Schrank mindestens ein Geheimfach. Als wir noch jü nger waren, gingen wir bei jedem ihrer Besuche auf Entdeckungsreise durch das Haus. Dass uns das Herumschnü ffeln streng verboten worden war, machte es erst recht spannend. Wir entwickelten immer ausgebufftere Strategien, um uns nicht erwischen zu lassen. Im Laufe der Zeit hatten wir wirklich einige Geheimfä cher und sogar eine Geheimtü r gefunden. Sie lag im Treppenhaus hinter einem Ö lgemä lde, auf dem ein dicker Mann mit Bart und gezü cktem Degen auf einem Pferd saß und grimmig guckte.

Bei dem grimmigen Mann handelte es sich laut Auskunft von Groß tante Maddy um meinen Urururururgroß onkel Hugh und seine Fuchsstute mit Namen Fat Annie. Die Tü r hinter dem Bild fü hrte zwar nur ein paar Stufen hinab in ein Badezimmer, aber geheim war sie deshalb irgendwie trotzdem.

»Du bist ja so ein Glü ckspilz, dass du hier wohnen darfst! «, sagte Leslie immer.

Ich fand eher, dass Leslie ein Glü ckspilz war.

Sie wohnte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und einem zotteligen Hund namens Ber-tie in einem gemü tlichen Reihenhaus in North Kensington. Da gab es keine Geheimnisse, keine unheimlichen Diener und keine nervenden Verwandten.

Frü her hatten wir auch mal in so einem Haus gewohnt, meine Mum, mein Dad, meine Geschwister und ich, in einem kleinen Haus in Durham, in Nordengland. Aber dann war mein Dad gestorben. Meine Schwester war gerade ein halbes Jahr alt gewesen und Mum war mit uns nach London gezogen, wahrscheinlich weil sie sich einsam gefü hlt hatte. Vielleicht war sie auch mit dem Geld nicht hingekommen.

Mum war in diesem Haus hier groß geworden, zusammen mit ihren Geschwistern Glenda und Harry. Onkel Harry lebte als Einziger nicht in London, er wohnte mit seiner Frau in Gloucestershire.

Zuerst war mir das Haus auch wie ein Palast vorgekommen, genau wie Leslie. Aber wenn man einen Palast mit einer groß en Familie teilen muss, kommt er einem nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr so groß vor.

Zumal es jede Menge ü berflü ssige Rä ume gab, wie den Ballsaal im Erdgeschoss, der sich ü ber die gesamte Hausbreite erstreckte.

Hier hä tte man toll skaten kö nnen, aber das war verboten. Der Raum war wunderschö n mit seinen hohen Fenstern, den Stuckdecken und den Kronleuchtern, aber zu meinen Lebzeiten hatte es hier nicht einen einzigen Ball gegeben, kein groß es Fest, keine Party.

Das Einzige, das im Ballsaal stattfand, waren Charlottes Tanzstunden und ihr

Fechtunterricht. Die Orchesterempore, die man von der Vorhalle ü ber die Treppe erreichen konnte, war ü berflü ssig wie ein Kropf. Auß er vielleicht fü r Caroline und ihre Freundinnen, die die dunklen Winkel unter den Treppen, die von hier hinauf in den ersten Stock fü hrten, beim Versteckspielen in Beschlag nahmen.

Im ersten Stock gab es das bereits erwä hnte Musikzimmer, auß erdem Lady Aristas und Groß tante Maddys Rä ume, ein Etagenbad (das mit der Geheimtü r) sowie das Esszimmer, in dem sich die Familie jeden Abend um halb acht zum Essen zu versammeln hatte.

Zwischen dem Esszimmer und der Kü che, die genau darunterlag, gab es einen altmodischen Speisenaufzug, mit dem sich Nick und Caroline manchmal zum Spaß gegenseitig auf-und abkurbelten, obwohl es natü rlich streng verboten war. Leslie und ich hatten das frü her auch immer gemacht, jetzt passten wir leider nicht mehr hinein.

Im zweiten Stock lagen Mr Bernhards Wohnung, das Arbeitszimmer meines verstorbenen Groß vaters - Lord Montrose -

und eine riesige Bibliothek. In diesem Stockwerk hatte auch Charlotte ihr Zimmer, es ging ü ber Eck und hatte einen Erker, mit dem Charlotte gerne angab. Ihre Mutter bewohnte einen Salon und ein Schlafzimmer mit Fenstern zur Straß e hin.

Von Charlottes Vater war Tante Glenda geschieden, er lebte mit einer neuen Frau irgendwo in Kent. Deshalb gab es auß er Mr Bernhard keinen Mann im Haus, es sei denn, man zä hlte meinen Bruder mit. Haustiere gab es auch nicht, egal wie sehr wir auch darum bettelten. Lady Arista mochte keine Tiere und Tante Glenda war allergisch gegen alles, was Fell hatte.

Meine Mum, meine Geschwister und ich wohnten im dritten Stock, direkt unter dem Dach, wo es viele schrä ge Wä nde, aber auch zwei kleine Balkone gab. Wir hatten jeder ein eigenes Zimmer und auf unser groß es Bad war Charlotte neidisch, weil das Bad im zweiten Stock keine Fenster hatte, unseres aber gleich zwei. Aber ich mochte es auch deswegen in unserem Stockwerk, weil hier Mum, Nick, Caroline und ich fü r uns waren, was in diesem Irrenhaus manchmal ein Segen sein konnte.

Nachteil war nur, dass wir verdammt weit weg von der Kü che waren, was mir wieder mal unangenehm auffiel, als ich jetzt oben ankam.

 

Ich hä tte mir wenigstens einen Apfel mitnehmen sollen. So musste ich mich mit den Butterkeksen aus dem Vorrat zufriedengeben, den meine Mum im Schrank angelegt hatte.

Aus lauter Angst, das Schwindelgefü hl kö nnte zurü ckkehren, aß ich elf Butterkekse hintereinander. Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus, ließ mich auf das Sofa im Nä hzimmer plumpsen und streckte mich lang aus.

Heute war irgendwie alles seltsam. Ich meine, noch seltsamer als sonst.

Es war erst zwei Uhr. Bis ich Leslie anrufen und meine Probleme mit ihr erö rtern konnte, dauerte es noch mindestens zweieinhalb Stunden. Auch meine Geschwister wü rden nicht vor vier Uhr aus der Schule kommen und meine Mum machte immer erst gegen fü nf bei der Arbeit Schluss. Normalerweise liebte ich es, allein in der Wohnung zu sein. Ich konnte in Ruhe ein Bad nehmen, ohne dass jemand an die Tü r klopfte, weil er dringend auf die Toilette musste. Ich konnte die Musik aufdrehen und laut mitsingen, ohne dass jemand lachte. Und ich konnte im Fernsehen anschauen, was ich wollte, ohne dass jemand

»aber jetzt kommt gleich Sponge Bob«

quengelte.

Aber heute hatte ich zu alldem keine Lust.

Nicht mal nach einem Schlä fchen war mir zumute. Im Gegenteil, das Sofa - sonst ein Platz unü bertroffener Geborgenheit - kam mir vor wie ein wackliges Floß in einem reiß enden Fluss. Ich hatte Angst, es kö nne mit mir davonschwimmen, sobald ich die Augen schließ en wü rde.

Um auf andere Gedanken zu kommen, stand ich auf und fing an, das Nä hzimmer ein bisschen aufzurä umen. Es war so etwas wie unser inoffizielles Wohnzimmer, denn glü cklicherweise nä hten weder die Tanten noch meine Groß mutter, weshalb sie hö chst selten in den dritten Stock hinaufkamen. Es gab auch keine Nä hmaschine hier, dafü r eine enge Stiege, die hinauf aufs Dach fü hrte. Die Stiege war nur fü r den Schornsteinfeger bestimmt, aber Leslie und ich hatten das Dach zu einem unserer Lieblingsplä tze erkoren.

Man hatte einen wunderbaren Ausblick von da oben und es gab keinen besseren Ort fü r Mä dchengesprä che. (Zum Beispiel ü ber Jungs und dass wir keine kannten, in die es sich zu verlieben lohnte.)

Natü rlich war es ein bisschen gefä hrlich, weil es kein Gelä nder gab, nur eine kniehohe Firstverzierung aus galvanisiertem Eisen.

Aber man musste ja da auch nicht gerade Weitsprung ü ben oder bis an den Abgrund tanzen. Der Schlü ssel, der zu der Tü r auf dem Dach gehö rte, lag in einer Zuckerdose mit Rosenmuster im Schrank. In meiner Familie wusste niemand, dass ich das Versteck kannte, sonst wä re sicher die Hö lle los gewesen.

Deshalb passte ich immer sehr auf, dass niemand mitbekam, wenn ich mich aufs Dach schlich. Man konnte sich dort auch sonnen, picknicken oder sich einfach nur verstecken, wenn man mal seine Ruhe haben wollte. Was ich wie gesagt oft wollte, nur gerade jetzt nicht.

Ich faltete unsere Wolldecken zusammen, fegte Kekskrü mel vom Sofa, klopfte Kissen in Form und rä umte herumfliegende Schachfiguren zurü ck in ihre Schachtel. Ich goss sogar die Azalee, die in einem Topf auf dem Sekretä r in der Ecke stand, und wischte mit einem feuchten Tuch ü ber den Couchtisch. Dann sah ich mich unschlü ssig in dem nun tadellos aufgerä umten Zimmer um. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen und ich sehnte mich noch mehr nach Gesellschaft als vorher.

Ob Charlotte unten im Musikzimmer wieder schwindelig war? Was passierte eigentlich, wenn man vom ersten Stock eines Hauses im Mayfair des 21. Jahrhunderts ins Mayfair des, sagen wir mal, 15. Jahrhunderts sprang, als es an diesem Ort noch gar keine oder nur wenige Hä user gegeben hatte? Landete man dann in der Luft und plumpste sieben Meter tief auf die Erde? In einen Ameisenhaufen vielleicht?

Arme Charlotte. Aber vielleicht lehrte man sie ja in ihrem mysteriö sen Mysterienunterricht das Fliegen.

Apropos Mysterien: Mit einem Mal fiel mir etwas ein, womit ich mich ablenken konnte.

Ich ging in Mums Zimmer und schaute hinunter auf die Straß e. Im Hauseingang von Nummer 18 stand immer noch der schwarze Mann. Ich konnte seine Beine und einen Teil seines Trenchcoats sehen. So tief wie heute waren mir die drei Stockwerke noch nie vorgekommen. Spaß eshalber rechnete ich aus, wie weit es von hier oben bis zum Erdboden war.

Konnte man einen Sturz aus vierzehn Metern Hö he ü berhaupt ü berleben? Na, vielleicht, wenn man Glü ck hatte und in sumpfigem Marschland landete. Angeblich war ganz London mal sumpfiges Marschland gewesen, sagte jedenfalls Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin. Sumpf war gut, da landete man wenigstens weich. Allerdings nur, um dann elend im Schlamm zu ertrinken.

Ich schluckte. Meine eigenen Gedanken waren mir unheimlich.

Um nicht lä nger allein sein zu mü ssen, beschloss ich, meiner Verwandtschaft im Musikzimmer einen Besuch abzustatten, auch auf die Gefahr hin, wegen streng geheimer Gesprä che wieder hinausgeschickt zu werden.

Als ich eintrat, saß Groß tante Maddy auf ihrem Lieblingssessel am Fenster und Charlotte stand am anderen Fenster, ihren Hintern gegen den Louis-quatorze-Schreibtisch gelehnt, dessen bunt lackierte und vergoldete Oberflä che zu berü hren, uns streng verboten war, egal mit welchem Kö rperteil. (Nicht zu fassen, dass etwas so Grottenhä ssliches wie dieser Schreibtisch so wertvoll sein konnte, wie Lady Arista immer behauptete. Er hatte nicht mal Geheimfä cher, das hatten Leslie und ich vor Jahren schon herausgefunden.) Charlotte hatte sich umgezogen und trug anstelle der Schuluniform ein dunkelblaues Kleid, das wie eine Mischung aus Nachthemd, Bademantel und Nonnenkluft aussah.

»Ich bin noch da, wie du siehst«, sagte sie.

»Das ist... schö n«, sagte ich, wä hrend ich mich bemü hte, das Kleid nicht allzu entsetzt anzustarren.

»Es ist unerträ glich«, sagte Tante Glenda, die zwischen den beiden Fenstern auf und ab ging. Wie Charlotte war sie groß und schlank und hatte leuchtend rote Locken. Meine Mum hatte die gleichen Locken und auch meine Groß mutter war mal rothaarig gewesen.

Caroline und Nick hatten die Haarfarbe ebenfalls geerbt. Nur ich war dunkel- und glatthaarig wie mein Vater.

Frü her hatte ich auch unbedingt rote Haare haben wollen, aber Leslie hatte mich davon ü berzeugt, dass meine schwarzen Haare einen reizvollen Kontrast zu meinen blauen Augen und der hellen Haut bildeten. Leslie redete mir auch erfolgreich ein, dass mein halbmondfö rmiges Muttermal an der Schlä fe -

das Tante Glenda immer»komische Banane«

nannte - geheimnisvoll und apart aussä he.

Mittlerweile fand ich mich selber ganz hü bsch, nicht zuletzt dank der Zahnspange, die meine vorstehenden Vorderzä hne gebä ndigt und mir das Hä schenä hnliche genommen hatte. Auch wenn ich natü rlich lä ngst nicht so»liebreizend und voll bezaubernder Anmut«war wie Charlotte, um mit James zu sprechen. Ha, ich wü nschte, er kö nnte sie in diesem Sackkleid sehen.

 

»Gwendolyn, Engelchen, mö chtest du ein Zitronenbonbon? «Groß tante Maddy klopfte auf den Schemel neben sich.»Setz dich doch zu mir und lenk mich ein bisschen ab. Glenda macht mich schrecklich nervö s mit ihrem Hin-und Hergerenne.«

»Du hast ja keine Ahnung von den Gefü hlen einer Mutter, Tante Maddy«, sagte Tante Glenda.

»Nein, das habe ich wohl nicht«, seufzte Groß tante Maddy. Sie war die Schwester meines Groß vaters und sie war nie verheiratet gewesen. Sie war eine rundliche, kleine Person mit frö hlichen blauen Kinderaugen und goldblond gefä rbten Haaren, in denen nicht selten ein vergessener Lockenwickler steckte.

»Wo ist denn Lady Arista? «, fragte ich, wä hrend ich mir ein Zitronenbonbon nahm.

»Sie telefoniert nebenan«, sagte Groß tante Maddy.»Aber so leise, dass man leider kein Wort verstehen kann. Das war ü brigens die letzte Dose Bonbons. Du hä ttest nicht zufä llig Zeit, zu Selfridges zu laufen und neue zu besorgen? «

»Klar«, sagte ich.

Charlotte verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und sofort fuhr Tante Glenda herum.»Charlotte? «

»Nichts«, sagte Charlotte.

Tante Glenda kniff ihre Lippen zusammen.

»Solltest du nicht besser im Erdgeschoss warten? «, fragte ich Charlotte.»Du wü rdest dann nicht so tief fallen.«

»Solltest du nicht besser die Klappe halten, wenn du von Dingen ü berhaupt keine Ahnung hast? «, fragte Charlotte zurü ck.

»Wirklich, das Letzte, was Charlotte im Augenblick gebrauchen kann, sind blö de Bemerkungen«, sagte Tante Glenda.

Ich fing an zu bereuen, heruntergekommen zu sein.

»Beim ersten Mal springt der Gen-Trä ger nie weiter zurü ck als hundertfü nfzig Jahre«, erklä rte Groß tante Maddy liebenswü rdig.

»Dieses Haus ist 1781 fertiggestellt worden, hier im Musikzimmer ist Charlotte also absolut sicher. Sie kö nnte hö chstens ein paar musizierende Ladys erschrecken.«

»In dem Kleid bestimmt«, sagte ich so leise, dass nur meine Groß tante mich hö ren konnte.

Sie kicherte.

Die Tü r flog auf und Lady Arista kam herein.

Sie sah wie immer aus, als habe sie einen Stock verschluckt. Oder auch mehrere. Einen fü r ihre Arme, einen fü r ihre Beine und einen, der in der Mitte alles zusammenhielt. Die weiß en Haare waren straff aus dem Gesicht gekä mmt und im Nacken zu einem Knoten gesteckt, wie bei einer Ballettlehrerin, mit der nicht gut Kirschen essen war.»Ein Fahrer ist unterwegs. Die de Villiers erwarten uns in Temple. Dann kann Charlotte bei ihrer Rü ckkehr gleich in den Chronografen eingelesen werden.«

Ich verstand nur Bahnhof.

»Und wenn es heute noch gar nicht passiert? «, fragte Charlotte.»Charlotte, Liebes, dir war schon dreimal schwindelig«, sagte Tante Glenda.

»Frü her oder spä ter wird es passieren«, sagte Lady Arista.»Kommt jetzt, der Fahrer wird jeden Augenblick hier sein.«

Tante Glenda nahm Charlottes Arm und zusammen mit Lady Arista verließ en sie den Raum. Als die Tü r hinter ihnen ins Schloss fiel, sahen Groß tante Maddy und ich uns an.

»Manchmal kö nnte man denken, man sei unsichtbar, nicht wahr? «, sagte Groß tante Maddy.»Wenigstens ein Auf Wiedersehen oder ein Hallo ab und an wä re doch nett.

Oder auch ein kluges Liebe Maddy, hattest du vielleicht eine Vision, die uns weiterhelfen kö nnte? «

»Hattest du eine? «

»Nein«, sagte Groß tante Maddy.»Gott sei Dank nicht. Ich kriege nach den Visionen immer so schrecklichen Hunger und ich bin ohnehin zu fett.«

»Wer sind die de Villiers? «, fragte ich.

»Ein Haufen arroganter Schnö sel, wenn du mich fragst«, sagte Groß tante Maddy.»Alles Anwä lte und Bankiers. Sie besitzen die Privatbank de Villiers in der City. Wir haben unsere Konten dort.«

Das klang herzlich wenig mystisch.

»Und was haben die Leute mit Charlotte zu tun? «

 

»Sagen wir mal, sie haben ä hnliche Probleme wie wir.«

»Welche Probleme? «Mussten sie auch mit einer tyrannischen Groß mutter, einer biestigen Tante und einer eingebildeten Cousine unter einem Dach wohnen?

»Das Zeitreise-Gen«, sagte Groß tante Maddy.

»Bei den de Villiers vererbt es sich an die mä nnlichen Nachkommen.«

»Sie haben also auch eine Charlotte zu Hause? «

»Das mä nnliche Gegenstü ck dazu. Er heiß t Gideon, soviel ich weiß.«

»Und der wartet auch darauf, dass ihm schwindelig wird? «»Er hat es schon hinter sich. Er ist zwei Jahre ä lter als Charlotte.«

»Das heiß t, er springt seit zwei Jahren munter in der Zeit herum? «»Das ist anzunehmen.«

Ich versuchte, die neuen Informationen mit dem wenigen, was ich bereits wusste, zusammenzubringen. Weil Groß tante Maddy heute so ungeheuer auskunftsfreudig war, gö nnte ich mir aber nur ein paar Sekunden dafü r.»Und was ist ein Chroni-, Chrono...? «

»Chronograf! «Groß tante Maddy verdrehte die blauen Kulleraugen.»Das ist eine Art Apparat, mit dem man die Gen-Trä ger -und nur die! - in eine bestimmte Zeit schicken kann. Hat irgendwas mit Blut zu tun.«

»Eine Zeitmaschine? «Betankt mit Blut?

Lieber Himmel!

Groß tante Maddy zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wie das Ding funktioniert. Du vergisst, dass ich auch nur weiß, was ich zufä llig mitbekomme, wä hrend ich hier sitze und so tue, als kö nnte ich kein Wä sserchen trü ben. Das ist alles sehr geheim.«

»Ja. Und sehr kompliziert«, sagte ich.»Woher weiß man denn ü berhaupt, dass Charlotte dieses Gen hat? Und warum hat sie es und nicht zum Beispiel... Ä hm... du? «

»Ich kann es nicht haben, gottlob«, antwortete sie.»Wir Mont-roses waren zwar schon immer komische Vö gel, aber das Gen kam erst durch deine Groß mutter in unsere Familie. Weil mein Bruder sie ja unbedingt heiraten musste.«Tante Maddy grinste. Sie war die Schwester meines verstorbenen Groß vaters Lucas.

Weil sie selbst keinen Mann hatte, war sie schon in jungen Jahren zu ihm gezogen und hatte ihm den Haushalt gefü hrt.»Nach der Hochzeit von Lucas und Lady Arista hö rte ich das erste Mal von diesem Gen. Die letzte Gen-Trä gerin in Charlottes Erblinie war eine Dame namens Margret Tilney und die wiederum war die Groß mutter deiner Groß mutter Arista.«

»Und Charlotte erbte das Gen von dieser Margret? «

 

»Oh nein, dazwischen erbte es Lucy. Das arme Mä dchen.«

»Was fü r eine Lucy? «

»Deine Cousine Lucy, Harrys ä lteste Tochter.«

»Oh! Die Lucy.«Mein Onkel Harry, der aus Gloucestershire, war deutlich ä lter als Glenda und meine Mum. Seine drei Kinder waren schon lä ngst erwachsen. David, der Jü ngste, war achtundzwanzig und Pilot bei British Airways. Was leider nicht bedeutete, dass wir billiger an Flugtickets kamen. Und Janet, die Mittlere, hatte selber schon Kinder, zwei kleine Nervensä gen namens Poppy und Daisy.

Lucy, die Ä lteste, hatte ich nie kennengelernt.

Viel wusste ich auch nicht ü ber sie. Die Familie pflegte Lucy totzuschweigen. Sie war nä mlich so etwas wie das schwarze Schaf der Montroses. Mit siebzehn war sie von zu Hause abgehauen und hatte seitdem nie wieder etwas von sich hö ren lassen.

 

»Lucy ist also eine Gen-Trä gerin? «

»Oh ja«, sagte Groß tante Maddy.»Hier war die Hö lle los, als sie verschwand. Deine Groß mutter hatte beinahe einen Herzinfarkt.

Es war ein fü rchterlicher Skandal.«Sie schü ttelte so heftig den Kopf, dass ihre goldenen

Lö ckchen

vö llig

durcheinandergerieten.

»Das kann ich mir denken.«Ich stellte mir vor, was wohl passieren wü rde, wenn Charlotte einfach ihre Koffer packen und abhauen wü rde.

»Nein, nein, das kannst du nicht. Du weiß t ja nicht, unter welch dramatischen Umstä nden sie verschwand und wie das alles mit diesem Jungen zusammenhing... Gwendolyn! Nimm den Finger aus dem Mund! Das ist eine grä ssliche Angewohnheit! «

»Entschuldigung.«Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich angefangen hatte, an meinem Fingernagel zu knabbern.»Das ist nur die Aufregung. Es gibt da so viel, das ich nicht verstehe...«

»Das geht mir genauso«, versicherte Groß tante Maddy.»Und ich hö r mir den Kram schon an, seit ich fü nfzehn bin. Dafü r besitze ich so etwas wie eine natü rliche Begabung fü r Mysterien. Alle Montroses lieben Geheimnisse. Das war schon immer so.

Nur deshalb hat mein unglü ckseliger Bruder deine Groß mutter ü berhaupt geheiratet, wenn du mich fragst. Ihr liebreizender Charme kann es auf keinen Fall gewesen sein, denn sie hatte keinen.«Sie tauchte ihre Hand in die Bonbondose und seufzte, als sie ins Leere griff.»Ach herrje, ich fü rchte, ich bin sü chtig nach diesen Dingern.«

»Ich laufe schnell zu Selfridges und hole dir neue«, sagte ich.

»Du bist und bleibst mein liebstes Engelchen.

Gib mir einen Kuss und zieh dir einen Mantel an, es regnet. Und kau niemals mehr an deinen Fingernä geln, hö rst du? «

Da mein Mantel noch im Spind in der Schule hing, zog ich Mums geblü mten Regenmantel an und zog die Kapuze ü ber den Kopf, als ich vor die Haustü r trat. Der Mann im Hauseingang von Nummer 18 zü ndete sich gerade eine Zigarette an. Einer plö tzlichen Eingebung folgend winkte ich ihm zu, wä hrend ich die Treppen hinuntersprang.

Er winkte nicht zurü ck. Natü rlich nicht.

»Blö dmann.«Ich lief los, Richtung Oxford Street. Es regnete fü rchterlich. Ich hä tte besser nicht nur den Regenmantel, sondern auch Gummistiefel angezogen. Mein Lieblings-Magnolienbaum an der Ecke ließ traurig seine Blü ten hä ngen. Bevor ich ihn erreicht hatte, war ich schon dreimal in eine Pfü tze getreten. Als ich gerade eine vierte umgehen wollte, riss es mich vollkommen ohne Vorwarnung von den Beinen. Mein Magen fuhr Achterbahn und die Straß e verschwamm vor meinen Augen zu einem grauen Fluss.

Ex hoc momento pendet aeternitas.

(An diesem Augenblick hä ngt die Ewigkeit.)

Inschrift einer Sonnenuhr, Middle Temple, London

3.

Als ich wieder klar sehen konnte, bog ein Oldtimer um die Ecke und ich kniete auf dem Bü rgersteig und zitterte vor Schreck.

Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Straß e.

Sie sah anders aus als sonst. Alles war in der letzten Sekunde anders geworden.

 

Der Regen hatte aufgehö rt, dafü r wehte ein eisiger Wind und es war viel dunkler als vorhin, fast Nacht. Der Magnolienbaum trug weder Blü ten noch Blä tter. Ich war nicht mal sicher, ob es ü berhaupt noch ein Magnolienbaum war.

Die Spitzen des Zauns, der ihn umgab, waren golden bemalt. Ich hä tte schwö ren kö nnen, dass sie gestern noch schwarz gewesen waren.

Wieder bog ein Oldtimer um die Ecke. Ein seltsames Gefä hrt mit hohen Rä dern und hellen Speichen. Ich blickte den B






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